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In diesem Text wird eine Leerstelle in Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ geschlossen: Wie läuft das Treffen zwischen Tschick, Maik und Isa, zu dem sie sich verabredet hatten?

50 years later

Mühsam bewege ich meine Glieder. Schmerzen bereiten mir meine Gelenke. Eine wilde Nacht, meine Fete zum 63. Die ganzen blöden, alten Tratsch-Tanten aus der Seniorengruppe kamen als „Überraschung“. Ich habe die nicht mal eingeladen! Nur gesoffen haben sie, gegessen und gespuckt! Weil sie zu blöd sind, ihr Gebiss rein zu machen! Und jetzt darf ich den Dreck der eingeladenen, nervigen Gäste wegkehren. Mit schmerzendem Rücken, kaputten Gelenken und das in meinem Alter! Genug für heute. Ich muss mich ausruhen. Ansonsten zerfrisst mich mein Rheuma.

Mit einer Hand auf dem Gehstock, mit der anderem am Geländer, hangele ich mich hinaus auf die Straße. Ab jetzt nur noch quer durch das halbe Kaff…

„Tag für Tag wird es anstrengender. Nichts fällt mir mehr leicht. Alles wird zu einer Herausforderung.“, sprechen meine Gedanken zu mir auf dem Weg ins warme Heim. „Und ach so goldige Enkel, die mir während des Tages helfen, hab‘ ich auch nicht. Ich bin bloß die verdrossene Alte von gegenüber!“

50 Meter. Schritt. 40 Meter. Schritt. 30 Meter. Schritt. 20 Meter. Schritt. Weitere 10 Meter.

Stufe. Linke Hand ans Geländer. Gehstock auf die nächste Stufe. Bein anheben. Schritt. Wiederholen.

Mit vier Schweißtropfen mehr auf der Stirn stehe ich endlich angelangt vor meiner eichenholzbraunen Holzhaustür. Das Schlüsselloch. Angespannt ziehe ich den Schlüsselbund aus meiner rechten Jackentasche. Friemle nach einer schieren Unendlichkeit endlich den passenden Schlüssel hervor. Wie automatisch beugt sich der Oberkörper nach unter, Richtung Schlüsselloch. Das rechte Augenlied klappt runter. Es erleichtert das Zielen. Der Schlüssel ist im Schloss.

Die Haustür quietscht wie gewohnt. Manchmal wie ein Willkommensgruß. Ein anderes Mal hört man das Wehklagen eines sterbenden Kindes. Die Jacke häng‘ ich auf den Haken, neben der Heizung. Die Schuhe lasse ich an. Zielstrebig steuern meine Füße den großen, ockerfarbenen Ohrensessel an. 180° Drehung. Ich spüre das weiche Polster unter mir. Gut fühlt es sich an. Warm. Jeden Tag an der gleichen Stelle. Ohne Veränderungen. Als ob er auf mich wartet. Die Wärme in perfekter Symbiose mit dem Sessel lassen meine Augenlieder schwer werden.

Grelles Licht fällt auf mein Gesicht. Augenaufschlag. Ich bin geblendet von der tief stehenden Abendsonne, die durch meine verstaubten Fenster scheint. Ich möchte aufstehen. Meine Beine verweigern. „Mein Gott, ich befehle euch alten Beine, steht auf!“ Ich bringe all meine Willenskraft auf. Es funktioniert nicht! Ich bleibe einfach liegen. Erschöpft und völlig entkräftet klappt mein Kopf nach hinten und die Gedanken strömen mir nur so durch den Kopf: „Damals war ich jung. Damals war ich sportlich. Damals war ich attraktiv. Vor 50 Jahren. Ich trug blondes, langes ungeschorenes Haar. Und schlank war ich! Ich lebte auf einer Müllkippe. Hielt mich dort über Wasser. Ab und zu stahl ich eine Konservendose von dem fetten, alten Mann, der dort ebenso wohnte. Einmal wurde ich von ihn erwischt. Er hielt mich fest. Und sagte zu mir, dass er alles vergessen werde, wenn ich nur mein Oberteil ausziehen würde. Mir blieb die Spucke weg. Ich überlegt was ich tun sollte. Besser als verhungern. Erst recht als vergewaltigt zu werden. Ich tat es. Ich hatte eh nichts zu verlieren.“

 Ein Schmunzeln huscht über mein Gesicht. „Ich überlebte es. Die Dose war es wert. So schlief ich an diesem Tag mit vollen Magen ein. Der nächste Tag. Ich räkelte mich in den heißen Sommersonnenstrahlen. Und da hörte ich es. Zwei Stimmen etwas weiter weg. Sie wurde lauter. Sie müssen sich streiten. Neugierig wie ich war, huschte ich mit flinken Mädchenfüßen über den Boden zur der Richtung, aus denen ich die Stimmen vermutete. Und da waren sie. Zwei Jungs. Ein schlitzäugiger und ein blasser.“

Mein Schmunzeln wurde breiter. Ich ärgere mich über mein altes Hirn, da es nicht mehr weiß, was danach passierte. Und da ich sowieso nicht aufstehen kann, lasse ich meine angespannten Schulter fallen, lasse mich in Erinnerungen treiben: „Ja der Blasse, der

war süß. Ich erinnere mich: Ich sitze zusammen, hautnah bei ihm. Ich genieße die angenehm kitzelnden Sonnenstrahlen, die auf mein Gesicht fallen. Wir sitzen am Ufer eines Sees. Ich genieße die Zeit mit ihm. Es ist einfach wunderbar. Es ist ein Moment, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Und da kommt dann auch der Schlitzäugige dazu. In dieser Idylle schwören sich drei Jugendliche, sich in 50 Jahren hier zu dritt wieder zu stehen.“

 Abrupt werde ich aus meiner Gedankenwelt gerissen, in die ich kurzzeitig geflohen bin. Hektisch dreht sich mein steifer Hals von einer in die andere Richtung. Wo ist die Uhr?! Und plötzlich funktionieren auch meine Beine wieder. Wackelig, ohne Stock eilte ich so schnell ich kann durch die Wohnung. Ohne mich festzuhalten. Zielstrebig ohne Pause. Ich stehe in der Küche. Mein Blick wandert schnell nach links zur Wand. Hinauf zur Uhr. 17:37. Weiter unten Dienstag. Gestern feierte ich meinen Geburtstag. „Ich habe 63 Jahre überstanden. Vor 50 Jahren war ich dreizehn. Im selben Alter gab ich ein Versprechen. Ich breche nie meine Versprechen. Niemals!“ „Ich hätte gestern bei dem Treffen sein müssen! Ich gab mein Wort!

Was ist, wenn dort zwei Männer standen, sich nach 50 Jahren mit Tränen in den Augen in die Arme fallen und Geschichten austauschen, während sie auf mich warten? Auf mich! Ja mich, sie warteten auf MICH, Isa! Wo warst du?! Es waren vielleicht die einzigen echten Freunde, die du jemals hattest!

Und ich feierte, ohne Gedanken an andere meinen Geburtstag! „Verdammt! Ich hätte daran denken müssen! Das bin ich den beiden schuldig.“ „Verfluchte Scheiße!“, schrei ich hinaus gegen die vier Wände. Stimmen der Zweifel kommen in mir hoch, ja sogar eine Stimme, die versucht, es zu rechtfertigen.

„Was ist, wenn keiner dort war? Was ist, wenn niemand daran gedacht hat? Hat jemand überhaupt einen Gedanken an mich verschwendet?“ Tausend weitere Gedanken schießen in Windeseile durch meinen Kopf. Abgelenkt werde ich nur durch meine schmerzenden Gelenke. Schwindel überfällt mich. Unbeholfen plumps ich auf meinen Stuhl. Die Welt um mich herum dreht sich immer schneller. Ein letzter Gedanke bleibt: „Vielleicht denken Sie, dass ich tot bin?“

(Marius, 9. Klasse)